04.11.04

Ludwig Seyfarth: Gespeicherte Zeit - Nathalie Grenzhaeusers Fotoserie „Omaha Beach“

Gespeicherte Zeit - Nathalie Grenzhaeusers Fotoserie „Omaha Beach“

Ende des 19. Jahrhunderts mehrten sich die Versuche, stilistische Vorgaben der Malerei in das noch junge Medium der Fotografie zu übertragen. Die konturierte Detailschärfe, zunächst eine der vorrangig bewunderten Eigenschaften der Lichtbilder, fand immer mehr Kritiker, die darin eine seelenlose Gleichmacherei sahen. Zuviele Details wurden als Störung der kompositorischen Einheit betrachtet, ohne welche die Fotografie nicht als Kunstform gelten könne. [1]

So populär die bewussten Unschärfen des „Piktorialismus“ um die Jahrhundertwende waren, so vehement lehnten sie die radikalen Vertreter der Moderne später ab. In seinem Bauhaus-Buch „Malerei-Fotografie-Film“ führte Laszlo Moholy-Nagy 1927 didaktisch vor, wie die Fotografie sich von romantischen Landschaften und Weichzeichnereien befreien und, wie er meinte, zu sich selbst finden müsse. „Die Wiederholung als raum-zeitliches Gliederungsmotiv, das in diesem Reichtum und dieser Exaktheit nur durch die für unsere Zeit charakteristische technisch-industrielle Vervielfältigung entstehen konnte“ demonstriert Moholy-Nagy mit dem Agenturfoto einer Flugzeugstaffel über dem nördlichen Eismeer.

Nathalie Grenzhaeusers Serie „Omaha Beach“ erinnert auf den ersten Blick eher an die Bilder, die Moholy-Nagy als negative Kontrastfolie vorführte, um die „richtige“ Fotografie davon abzusetzen: das stimmungshaft romantische Foto eines Zeppelins über dem Ozean und eine Straßenszene, die Alfred Stieglitz im Stile des Impressionismus weichzeichnerisch und leicht von oben ins Bild setzte.

Grenzhaeuser zeigt die Landschaften an der französischen Normandieküste in toniger Farbigkeit, in dunkler Gewitterstimmung, einzelne Bäume à la Caspar David Friedrich trotzen dem Wind. Den Bildern liegen Aufnahmen zugrunde, die Grenzhaeuser während mehrerer Aufenthalte vor Ort machte. Dass die realen Szenerien in eine geheimnisvoll entrückte Phantasiewelt hinüberzugleiten scheinen, ist jedoch Ergebnis mehr oder weniger umfangreicher Weiterbearbeitung am Computer. Hier entstehen teilweise ähnliche Effekte, wie sie vor hundert Jahren durch Gelatinebeschichtungen, grobkörnige Filme und Papiere oder das Gummidruckverfahren zustandekamen.

Absichten und stilistische Mittel, die Wolfgang Ullrich für das Werk des Gummidruckpioniers und Hauptvertreters des Piktorialismus im deutschsprachigen Raum, Heinrich Kühn (1866-1944), ausmacht, scheinen bei Nathalie Grenzhaeuser fröhliche Urständ zu feiern, so „die völlige Kontrolle über die Bildfläche“[2] oder eine „partielle Preisgabe des Illusionsraums, der sich dafür in einen Stimmungsraum verwandelt“ [3].

Zurückgedrängt wird auch das Dokumentarisch-Faktische, welches die teilweise an den gleichen Orten aufgenommenen Fotos bestimmt, mit denen Paul Virilio seine kriegshistorischen Forschungen zur „Bunker archéologie“ (1975) illustriert hat. Bunker und andere militärischen Bauten bevölkern die kargen Strände, die am 6. Juni 1944 Schauplatz der Landung der Alliierten wurden. Geschichtliche Fakten werden in Grenzhaeusers Fotos nicht explizit, sondern gehen in ein vielschichtiges visuelles Erinnerungspotential ein. Topoi der Landschaftsmalerei des 18. und 19. Jahrhunderts und die vom Modernismus verdrängte piktorialistische Fotografie bilden eine Folie, deren Weiterentwicklung bis heute wie ein rückwärtslaufender Film aufgeblättert wird. Auch die filmischen Assoziationen sind vielfältig und teilweise historisch. Einige Fotos erinnern an die theaterhaften Kulissen von Studiosets der 1930er und 1940er Jahre. Das an ein gelandetes Ufo gemahnende Museum scheint einem Science-Fiction-Streifen zu entstammen. Die Irrealität der realen Szene ist durch subtile Retuschen noch verstärkt.

Die digitale Bearbeitung wird nirgends explizit kenntlich. Sind aber solche Bilder überhaupt noch sinnvoll als Fotografie zu bezeichnen? Oder haben wir es mit neuen Formen des Bildes zu tun, bei denen mittels digitaler Bearbeitung herkömmliche Bildformen hybrid miteinander verschmelzen? Diese Frage stellt sich allerdings nur technisch neu. Schon die piktorialistischen Gummidrucke mit ihrer „Mimikry von Kunst“ [4]waren letztlich merkwürdige Hybride, bei denen sich fotografische mit Techniken der Malerei und Druckgrafik mischten. Edward Steichen (1876-1973), zunächst Hauptvertreter des amerikanischen „pictorialism“, ließ sein berühmtes Selbstbildnis-Foto von 1901/02 wie eine Lithografie erscheinen. Während des Ersten Weltkriegs leitete Steichen dann die amerikanische Luftaufklärung über Frankreich, was seine künstlerischen Vorstellungen völlig veränderte. Gleichsam durch die Praxis des Blickes von oben gegangen, für den Moholy-Nagy wenige Jahre später programmatisch auf den Berliner Funkturm stieg, schwor Steichen dem Piktorialismus ab, "um eine Neudefinition des Bildes zu finden, die direkt von der Fotografie als Mittel und durch den methodischen Umgang mit ihr inspiriert wurde".

Wie Moholy-Nagy mit Flugzeugstaffel und Funkturm legt auch Steichens Biografie nahe, dass sich der Piktorialismus mit der Avantgarde der 1920er Jahre historisch überholt habe. Dieser immer noch verbreiteten Auffassung, welche die Unschärfe „nur als rhetorisches Mittel einer kitschigen Phantasie bewertet“, widerspricht Wolfgang Ullrich vehement: „Daß sich als Hauptweg der Moderne schließlich – wenigstens für einige Jahrzehnte – die Abstraktion gegen die Unschärfe durchgesetzt hat, könnte sich jedenfalls einmal als Zufall darstellen und muß nicht zwangsläufig Ausdruck von Überlegenheit sein.“ [5]

Im heutigen deutschsprachigen Kontext stehen Nathalie Grenzhaeusers Stimmungsbilder für eine Renaissance der Unschärfe, die sich als Alternative zum dokumentarischen Formalismus der Bechers und einiger ihrer Nachfolger immer stärker abzeichnet. Die Detailfülle vieler Bilder Andreas Gurskys hätte den Piktorialisten sicher heftige Augenschmerzen bereitet. Aber auch im Umfeld der Becher-Schule geht der zeichnerische Kontur bisweilen nahtlos in stimmungshafte Unschärfen über, etwa in den Infrarot-Nachtbildern von Thomas Ruff oder in den Landschaften Elger Essers, die in ein mildes atmosphärisches Licht à la Claude Lorrain getaucht sind. Essers Fotos, zu deren Schauplätzen auch die Atlantikküste gehört, leben von dem unerwarteten Wahrnehmungsbruch, den die Aktualisierung kompositorischer Konventionen der Landschaftsmalerei in der heutigen Zeit bedeutet. Bei Nathalie Grenzhaeuser hingegen erscheint das landschaftliche Bildgedächtnis eher als historisches Kontinuum, das sich auf der Bildfläche des Fotos verdichtet und auf geduldige Betrachter wartet, welche die gleichermaßen gespeicherte Zeit durch die Zeit der Wahrnehmung wieder aus dem Bild herausholen.

[1] Vgl. Wolfgang Ullrich, Unschärfe, Antimodernismus und Avantgarde, in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/M: 2002, S. 381-412 und ders.: Die Geschichte der Unschärfe, Berlin 2003.

[2] Ullrich, Unschärfe..., S. 391.

[3] ebd., S. 392.

[4] Ebd., S. 401.

[5] Ebd., S. 412.

Text Ludwig Seyfarth aus Katalog "Nathalie Grenzhaeuser, 2001-2004", Forum 1822

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